Der Archäologe Thomas Brock hat ein unterhaltsames Buch mit dem Titel Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über die Germanen geschrieben, in dem er alles, was so an Mythen über die Germanen im Umlauf ist, auseinander nimmt. 1 Und obwohl ich natürlich sowieso an nichts von dem glaube, war die Lektüre für mich ein Gewinn, weil Brock den rezeptionsgeschichtlichen Wurzeln dieser Irrtümer nachgeht.
Germanen
war ursprünglich ein Begriff der römischen Ethnographie, der zuerst bei Caesar auftaucht und die Stämme östlich des Rheins bezeichnet. Mehr geht damit nicht einher: kein gemeinsames Reich, kein Zusammengehörigkeitsgefühl; sie müssen nicht einmal unbedingt eine von der heutigen Sprachwissenschaft als germanisch klassifizierte Sprache gesprochen haben. Im Mittelalter war der Begriff nahezu ausgestorben; erst im 16. Jahrhundert, getriggert durch die Wiederentdeckung einer Handschrift von Tacitus’ Germania um 1455 herum im Kloster Hersfeld, begann man, über die Germanen als Vorfahren der Deutschen nachzudenken. Bis auf den heutigen Tag bringt das merkwürdige Projektionen hervor. Ob Tacitus selbst je in Germanien gewesen ist, ist unklar. Natürlich benutzt er bereits vorhandene Berichte, aber seine Stoßrichtung, ein moralisches Unwerturteil über seine angeblich dekadenten Landsleute durch den Verweis auf ein angeblich naturbelassenes Volk zu legitimieren, weist ihn kaum als unvoreingenommenen Betrachter aus. Mit heutigen Mitteln lassen sich dann auch viele seiner Angaben widerlegen. Das etwa die Germanen hauptsächlich Fleich gegessen hätten, ist schlichtweg Unsinn. Ihre Nahrung war weit überwiegend pflanzlicher Herkunft, denn sie waren vorwiegend Ackerbauern.
Man hätte das Buch vielleicht auch in Anlehnung an Curt Götz Tacitus ist an allem Schuld
nennen können, denn neben der Germania liefert er in den erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Kloster Corvey entdeckten Annales mit der Überlieferung der Schlacht im Teutoburger Wald auch den zweiten Stoff, der neben der Germania Ausgangspunkt der meisten von Brock beschriebenen Germanenmythen ist. Ob Arminius wirklich als der Armenier
zu übersetzen ist und auf Arminus römische Militärkarriere verweist, ist umstritten. Sicher ist aber, daß die seit dem 16. Jahrhundert geläufige Verdeutschung Hermann
keine tatsächlichen Wurzeln hat, sondern nur eine germanisierende Klangassoziation ist. Arminius mit Tacitus als Befreier Germaniens zu feiern, ist schon ziemlich hoch gegriffen, denn die befreiten Gebiete umfaßten tatsächlich nur Westfalen, das rechtsrheinische Rheinland sowie kleine Teile Hessens und Niedersachsens. Nach kleineren Aktionen in der Zwischenzeit begannen im Jahr 14 dann die Rachefeldzüge des Germanicus, dem das Museum in Osnabrück bis 1. November 2015 eine Sonderausstellung widmet. Bis 16 konnte er zwar einige militärische Erfolge feiern, aber von einer Unterwerfung Germaniens blieb er weit entfernt. Daß die Römer dann ihre Bemühungen einstellten, hatte schlicht den Grund, das sie damit logistisch überfordert waren. Die römische Nordgrenze war ohnehin schon ein ständiger Unruheherd, nicht nur in Germanien, sondern auch in Pannonien (Ungarn). Nach der Lektüre Brocks holte ich eine Weltgeschichte von 1828 aus dem Bücherschrank, um den Arminiusstoff einmal dort nachzuschlagen. Dort wird er sogar als Befreier Deutschlands gefeiert. Das leitet zu einem weiteren Kapitel über, in dem Brock Arminius als Einiger der Deutschen bespricht. Im Spätbarock bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war Arminius ein beliebter Theaterstoff, nicht nur in Deutschland. So wurden über 200 Theaterbearbeitungen, darunter über 70 Opern gezählt. Daß Hermann in den deutschen Produkten als Einiger präsentiert wird, sind Projektionen, deren Grundlage die Zersplitterung Deutschlands in zahllose, mitunter mitunter winzige Territorien ist. In Krisenzeiten, insbesondere zur Zeit Napoleons, wurde der Arminiusstoff entsprechend umgebogen – mit der historischen Vorlage hat das alles nichts mehr zu tun.
Was in dem Buch etwas dünn vertreten ist, sind die skandinavischen Quellen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß die Edda von Laien gerne als Zeugnis germanischer Religion gewertet wird. Darüber hätte ich gerne etwas gelesen. Tatsächlich ist die Lieder-Edda jünger als das Nibelungenlied (Ende und Anfang des 13. Jahrhunderts). Auch der Verfasser der Prosa-Edda (ein Lehrbuch der Dichtkunst) Snorri Sturluson (*1179 †1241) lebte in dieser Zeit. Island hatte genau im Jahr 1000 das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Von authentischen Zeugen germanischer Religion sind wir hier weit entfernt. In dem Kapitel über blonde, blauäugige Hünen, in dem Brock darlegt, daß es sich dabei um den antiken Nordbabaren-Topos handelt, der auch auf andere Völker (z. B. die Skythen) zutrifft, hätte man auch die Rígsþula erwähnen können. Dort wird eine Erklärung für die verschiedenen Stände (Knechte, Freie, Adlige) gegeben, deren Ahnherren vom Gott Rig gezeugt werden und durch unterschiedliche Physiognomie ausgezeichnet sind: der Knecht schwarz von Haut und mißgestaltet; der Freie rot und mit funkelnden Augen; der Adlige hat lichte Locken, leuchtende Wangen und scharfe Augen.
Insgesamt ist Brocks Buch eine sehr lohnende Lektüre. Offenbar wollte man den Preis niedrig halten, den es enthält keine Bilder. Deshalb entgehen einem leider die Bilder von Carl Emil Doepler, der die Uraufführung von Wagners Ring mit Kostümen ausgestattet hatte und dabei den wikingischen Hörnerhelm erfand.
Anmerkungen
1Thomas Brock: Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über die Germanen. Darmstadt: Konrad Theiss Verlag 2014. 224 S. ISBN 97838062288441
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