Fehler im Vierfrauenbuch

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Das Gefangenendilemma in ethologischen Lehrbüchern

Das iterierte Gefangenendilemma findet sich mittlerweile in vielen biologischen Lehrbüchern, die die Ethologie (Verhaltensforschung) mitbehandeln.1 Seit Robert Axelrod erstmals 1984 sein berühmtes Buch über die Evolution der Kooperation2 mit einem zusammen mit William Hamilton (dem William Hamilton) verfassten Kapitel herausgebracht hatte, erfreut es sich großer Beliebtheit. Dort wurde nachgewiesen, daß eine geringe Zahl sozialer Mutanten eine Population von Egoisten übernehmen kann, weil die Kooperationsgewinne die Sozialitätskosten überkompensieren und somit in Fortpflanzung reinvestiert werden können. Das würde erklären, warum einige wenige Tierarten (ca. 3 %) Sozialität ausüben. Nichtsdestoweniger beweisen solche formalen Modelle nur das Funktionieren einer Logik – ob die Wirklichkeit sich ebenso so verhält, ist eine ganz andere Frage.

Auch das Vierfrauenbuch, ein akademisches Einführungswerk der Anthropologie (was hier als Humanbiologie zu verstehen ist), folgt diesem Muster3. Allerdings enthält es einen schweren Fehler, weil die eigentliche Pointe des Gefangenendilemmas hier offenbar nicht verstanden wurde. Darum geht es im nächsten Abschnitt.

Inhaltsverzeichnis

Der Rationalitätenkonflikt im Wiederholungsfall

Schon der einleitende Satz ist schwer verdaulich:

Das Gefangenen-Dilemma (engl. prisoner’s dilemma) ist ein bekannter spieltheoretischer Ansatz, um herzuleiten, dass Kooperation langfristig gesehen die stabilste evolutionäre Strategie darstellt.

Es ist genau umgekehrt, Kooperation ist im Gefangenedilemma die stabilste evolutionäre Strategie. Für andere Situationen, derer es auch in der Spieltheorie viele gibt, besagt das nichts. Die Preisfrage wäre nun, auf welche realweltlichen Situationen das theoretische Modell zutrifft? Darüber schweigen sich biologische Lehrbücher meistens aus.

Dann folgt im Text eine Schilderung der eponymen Situation, wobei in Strafen anstelle von Strafnachlässen (was mir logischer erscheint) gezählt wird: zwei Komplizen werden bei einer Straftat ertappt und in getrennten Zimmern verhört. Wenn beide schweigen, bekämen sie eine Strafminderung von drei Jahren, weil man nicht alles nachweisen kann. Der Staatsanwalt macht das Angebot, daß derjenige, der gesteht, fünf Jahre Strafnachlaß bekommt, wenn der andere schweigt und man diesem die volle Strafe zuerkennen kann. Gestehen allerdings beide, gibt es nur ein Jahr Strafnachlaß für jeden. Wie sollen sich die beiden verhalten? Das ganze kann man in einer sogenannten Auszahlungsmatrix darstellen:

Spieler 1
kooperiert
(schweigt)
defektiert
(gesteht)
Spieler 2kooperiert
(schweigt)
3; 30; 5
defektiert
(gesteht)
5; 01; 1

Im Buch wird nun behauptet, beide sollten schweigen, weil ihnen das den höchsten Strafnachlaß einbringt. In der Auszahlungsmatrix kann man sehen, daß Kooperation (Schweigen) 0 oder 3 Jahre Strafnachlaß einbringt, Defektion (Gestehen) hingegen 1 oder 5. Jeder der beiden könnte versucht sein, sich selbst einen Vorteil durch Bruch der Kooperation zu verschaffen, weil die Garantieauszahlung bei der Defektion höher ist als bei der Kooperation. Beide müßten einen bindenen Vertrag schließen können, der den Bruch der Kooperation mit Sanktionen versieht, aber das ist nicht möglich, da beide unabhängig voneinander entscheiden müssen, weil sie nicht kommunizieren können. Und daß bei Kooperation der höchste Strafnachlaß eintritt, gilt nur in kollektiver Betrachtung, wenn man die jeweils 3 Jahre zusammenzählt. Die individuelle und die kollektive Rationalität fallen hier also auseinander.

Damit individuelle und kollektive Rationalität zusammenfallen, muß sich der Vorgang ohne bekanntes Ende wiederholen. Das läßt sich im epoymen Szenario schlecht darstellen. Eine entsprechende Situation könnte man sich z. B. im Einzelhandel vorstellen. Sowohl der Kunde als auch der Händler sind grundsätzlich an langfristigen Geschäftsbeziehungen interessiert – der eine, um den langfristigen Betrieb sicherzustellen, der andere, um sich Optionen für günstiges Einkaufen zu bewahren. Für beide wäre es also vorteilhaft, sich nicht gegenseitig durch minderwertige Ware oder Ladendiebstahl zu betrügen, obwohl man sich damit einen kurzfristigen Vorteil verschaffen könnte. Beide haben aber keine Sicherheit dafür, daß es der andere nicht doch probiert. Hier lohnt es sich für beide, beim ersten Versuch einen Vertrauensvorschuß zu gewähren und Kooperation blind anzubieten, weil die Gewinne langfristig etablierter Geschäftsbeziehungen die Verluste durch gelegentliches Betrogenwerden übersteigen. Damit wird aber klar, daß die Frage, ob Kooperation eine evolutionär stabile Strategie darstellt, empfindlich von den Randbedingungen der Interaktion abhängt. So sind z. B. sowohl die Wiederholungsrate als auch die Auszahlungsmatrix beim Handel mit Immobilien und Lebensmitteln fundamental verschieden voneinander. Die oben erwähnten Bücher von Kappeler und Buss weisen auf diesen Umstand übrigens richtigerweise hin.

Noch eine Randbemerkung: Im eponymen Szenario mit den beiden Gefangenen spielt es keine Rolle, ob sie schuldig oder unschuldig sind, denn der Unschuldige hat dieselbe Auszahlungsmatrix wie der Schuldige. Bei echten falschen Geständnissen spielt wohl häufig ein hohes intellektuelles Gefälle zwischen Vernehmer und Vernommenen eine Rolle, aber selbst ohne dieses psychologische Moment ist im Gefangenendilemma ein falsches Geständnis rational und wahrheitsgemäßes Bestreiten irrational.

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Anmerkungen

1David M. Buss: Evolutionäre Psychologie. Aus dem Amerikanischen übers. von Ulrich Hoffrage. 2. Aufl. München: Pearson Studium, 2004. 599 S. ISBN: 3827370949, hier S. 337–340.Peter M. Kappeler: Verhaltensbiologie. 2. Aufl. Berlin und Heidelberg: Springer, 2009. 605 S. ISBN: 9783540687764, hier S. 546–549.

2Robert Axelrod: Die Evolution der Kooperation. Aus dem Amerikanischen übers. und mit einem Nachw. vers. von Werner Raub und Thomas Voss. 5. Aufl. Scientia Nova. München: Oldenbourg, 2000. 235 S. ISBN: 3486539957.

3Gisela Grupe, Kerrin Christiansen, Inge Schröder und Ursula Wittwer-Backofen: Anthropologie. Ein einführendes Lehrbuch. Berlin, Heidelberg: Springer, 2004. 490 S. ISBN: 3540211594, hier S. 424.


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